Gedichte . Geschichten . Gedanken
In Bonn, in unserem Mehrfamilienhaus wohnt sie. Die alte Dame. Alleine, 88 jährig.
Oft spricht sie mit mir. Im Treppenhaus.Das gefällt ihr. Manchmal spräche sie tagelang nicht. So sagt sie. Ich nehme mir Zeit. Zeit zum Zuhören.Erfahre von schweren Zeiten. Vor dem Krieg. Während des Kriegs.Von besseren Zeiten. Besseren als heute. Erfahre vom schönen Berlin. Der damaligen Mode, die kleidsamer war.
Vom Respekt vor den Menschen. Den vermisst sie. Von ihren Kindern.Weit weg wohnen sie heute. Sie bittet nie um deren Besuch. Es könnte ihnen ja was passieren. Bei der langen Anfahrt. Schuldgefühle wären entsetzlich.
Einkaufen falle ihr schwer. Ja ja – die Beine. Früher war alles besser. Das sagt sie nach jedem zweiten Satz.
Ich mache einen Schneespaziergang. Denke an die alte Frau. Denke, dass sie keine Spaziergänge mehr macht. Keinen Schneemann mehr baut. Ich forme zwei kleine Kugeln aus Schnee. In der Wohnung baue ich einen Minischneemann. Fertig. Eine Alltagsfreude. Denke ich. Bringe ihn ihr. Freude beiderseits.
Die Wochen vergingen. Immer wieder kurze Treffen im Treppenhaus. Wiederholungen. Bessere Zeiten – Berlin – Mode – Respekt. Ich kenne alle Geschichten.
Traurig sei sie – heute. Ihre Tochter komme nun doch nicht – heute.
Der Tiefkühler müsse abgetaut werden – heute – und sie habe keinen Fotoapparat. Unverständnis bei mir.
Was hat der Fotoapparat mit dem Tiefkühler gemein?
Ja, aber das Geschenk, der Schneemann solle doch fotografiert werden. Als Erinnerung. Drei Monate inzwischen waren vergangen. Die Alltagsfreude von damals – tiefgekühlt verwahrt.
Ich hole sofort meinen Fotoapparat und mache ein Foto. Ein Foto vom Schneemann. Folge dabei den Regieanweisungen der alten Dame.
Da sitzt er jetzt. Der Mini-Schneemann – im Blumenkasten. Vor ausgelaugten Wintertannen. Die Frühlingssonne läßt ihn schmelzen. Sachte. Begleitet von Amselgezwitscher und Magnolienduft.